20 Jahre Diabetes: Meine Inspiration für das Diaversary-Projekt

Trotz Honeymoon und Remissionsphase – das erste Jahr mit Diabetes war echt hart: Die Tage auf der Intensivstation, um den Blutzucker unter 1000 mg/dl zu drücken; die Angst blind zu werden, während sich die Werte langsam normalisierten; die ersten Schulungen zu Stoffwechsel, Kohlehydraten und der Wirkweise von Insulin; und dann das erste Messgerät, der erste Pen, die ersten Tagebücher und BE-Tabellen... 

Danach ging es zuhause weiter: Messen, wiegen, essen; erste Hypo, erste Keto, erste Null-Bock-Warum-Ich-Phase. Langsam wieder reintasten ins Leben, irgendwo zwischen Verdrängen, Angst und Büchern, die man eigentlich nicht lesen wollte. Selbst das von Mama extra gekochte Lieblingsessen war nicht mehr unbeschwert, erste Sportversuche geprägt von Unsicherheit, mangelnder Fitness und vielen Unterbrechungen. 

Davor lagen mehrere Wochen, in denen es mir so dreckig ging wie noch nie zuvor in meinem Leben: Dauerdurst, Gewichtsverlust und immer das Gefühl, dass da „irgendwas nicht stimmt mit mir“. Die Nacht, in der ich mir vor lauter Krämpfen und Kotzen fast selber einen Rettungswagen gerufen hätte. Und dann der morgendliche Besuch beim Arzt um die Ecke, ein Pieks in den Finger und die Diagnose: Diabetes. 

Heute, am 1. Dezember 2017, feiere ich meinen 20. Diaversary – den 20. Jahrestag meiner Diabetes-Diagnose. 

20 Jahre Diabetes entsprechen 7.305 Tagen, davon mehr als 30 in Krankenhäusern, Wartezimmern und Arztpraxen; 175.320 Stunden, davon viel zu viele mit trockenem Mund, bohrenden Kopfschmerzen und schlechtem Gewissen wegen hoher Blutzuckerwerte; oder 10,5 Millionen Minuten, davon einige zitternd, schwitzend, krampfend und zum Teil bewusstlos aufgrund akuter Unterzuckerung. 

20 Jahre Diabetes entsprechen auch 35.000 Fingerstichen für mehr als 100 ml Blut zum Messen meiner Blutzuckerwertes, 1.200 Ampullen mit 3,5 Litern Insulin, das ich mir – aufgeteilt auf rund 50.000 Injektionen – in den Bauch gespritzt habe, und grob überschlagenen Kosten von fast 100.000 Euro.

20 Jahre Diabetes entsprechen aber auch 20 Jahre Leben, in denen viel Gutes passiert ist: Am 1. Dezember 1997, dem Tag meiner Diagnose, steckte ich noch mitten im Zivildienst. Ein halbes Jahr später begann ich mein Studium, lebte zuerst in Hamburg, dann im Ruhrgebiet und zuletzt in Beirut und Damaskus; ich habe in Paris, New York und Berlin gearbeitet, bin drei Jahre lang rund um die Ostsee und halb um die Welt gesegelt, habe ein Abenteuerbuch geschrieben und einen Segelfilm gedreht und in meiner Heimatstadt Schleswig eine Bootswerft gegründet. Ich habe meine Freundin Mona kennen- und lieben gelernt, unseren Bordhund Jamaica adoptiert, meine Brüder heiraten und Vater werden und meine Eltern Großeltern werden sehen – und bin selber vor wenigen Wochen 40 Jahre alt geworden. Nichts davon hat etwas mit Diabetes zu tun – und das ist gut so. 

Mein Diabetes hat mich durch die letzten 20 Jahre begleitet, war an jedem der 6.941 Tage, in jeder Stunde und jeder Minute präsent und hat mich geprägt. Mein Leben wäre ohne Diabetes in vielen kleinen und größeren Details sicher anders verlaufen. Ich hätte andere Menschen kennen-, aber auch nicht kennengelernt, und würde mich heute mit anderen Themen beschäftigen – denn nicht nur privat ist Diabetes inzwischen ein wichtiger Teil von mir geworden: Ich habe 2012 die #dedoc°-Community gegründet, bin seit 2015 im Vorstand der Deutschen Diabetes-Hilfe und stelle gerade das Diaversary-Projekt auf die Beine. 

Und heute in einem Jahr werde ich zurückblicken: Was wird anders geworden sein? Was war gut, was schwierig? Wie geht es mir und anderen? Und können unsere Geschichten – denn das ist die Idee hinter dem Diaversary-Projekt – anderen Menschen mit Diabetes Mut machen? Ich persönlich wünschte, ich hätte vor 20 Jahren jemanden gekannt, der all das oben Beschriebene selbst bereits durchgemacht hat; der mir glaubhaft hätte vermitteln können, dass Diabetes zwar scheiße ist, aber dann doch irgendwie alles gut wird; und der mir von all den Menschen erzählt hätte, die sich gegenseitig helfen und motivieren und einander verstehen – und die alle eine Geschichte zu erzählen haben, in der andere sich wiederfinden können.

Jeder von uns hat seine eigene Diaversary-Geschichte. Welche ist Deine?