Viel erlebt, viel gelernt und das Beste draus gemacht

Am 4. Januar 1968 hatte ich mit meiner Mutter einen Termin beim Kinderarzt. Ich hatte viel abgenommen, längere Zeit schon unendlichen Durst und fühlte mich sehr schlapp. Mir wurde Blut abgenommen, welches meine Mutter und ich dann persönlich in das Labor bringen mussten. Vier Tage später erfuhren meine Eltern dann das Ergebnis der Blutuntersuchung beim Kinderarzt: Typ-1-Diabetes, und damit verbunden eine sofortige Einweisung ins Krankenhaus. Die Konsequenzen dieser Diagnose waren mir als Kind nicht bewusst. Ich dachte, alles wird wieder gut…  doch das Gegenteil war der Fall: Von diesem Zeitpunkt an war mein Leben total fremdbestimmt.

In den ersten Jahren war in allen Schulferien ein Krankenhausaufenthalt zur Überprüfung der Blutzucker- und Insulineinstellung notwendig. Insulin wurde zweimal am Tag per Glaskolbenspritze gegeben. Diese Spritzen mussten immer ausgekocht werden. Zu Hause konnten wir meinen Blutzucker nur mit Urinteststreifen bestimmen – doch diese sagten durch die Färbung nur aus, dass der Zucker wieder hoch und höher war. Dann waren Arztbesuche an der Tagesordnung. Meine Mutter hätte es nie gewagt, selbstständig eine Änderung der Insulindosis oder des BE-Plan vorzunehmen – das konnten nur die „Götter in Weiß“.

Bei meinem ersten Aufenthalt in einer Diabetesklinik 1973 gelang dann zum Glück ein „Durchbruch“. Hier lernte ich endlich, mit Altinsulin den Blutzucker zu deckeln, um höhere Werte in den Griff zu kriegen. Doch dann kam ich in die Pubertät: Ich mochte meinen Diabetes nicht akzeptieren, schlug sehr oft „über die Stränge“. Auf meine regelmäßigen Blutzuckerspitzen BZ-Erhöhungen reagierten die Ärzte mit immer größeren Insulingaben – bis hin zu 120 Insulineinheiten pro Tag. Das ging nicht lange gut. Ich erlebte im Sommer 1975 eine sehr schwere Hypoglykämie mit tiefer Bewusstlosigkeit. Gott sei dank war ich kurz vorher in die Diabetesklinik aufgenommen worden. Hier konnte mir sehr geholfen werden, meine Insulindosierung wurde um 50 Prozent reduziert.

Leider nahm ich in der folgenden Zeit viel an Gewicht zu und kam 1976 zu dem fatalen Entschluss, Abnahme durch Insulinentzug zu probieren. Ich wollte wieder so dünn sein wie bei Diagnose meines Diabetes – dabei ignorierte ich, dass ich damals nur deshalb sehr, sehr dünn war, weil das Insulin im Körper fehlte. Heute nennt man dieses Verhalten „Insulinpurging“, damals war mir dieser Begriff unbekannt. Ich hatte nur an meine Figur gedacht und nicht mit einer ketoazidotischen Hyperglykämie gerechnet. Man brachte mich als Notfall dann ins Krankenhaus, wo mir der Arzt wohlmeinend sagte, ich müsse ja nicht „Twiggy“ sein. NIE WIEDER solche Abenteuer.

Die Möglichkeiten zur selbstständigen Testung des Blutzuckers waren für uns Diabetiker Ende der 1970er Jahre noch unzureichend. Erst ab Anfang der 1980er Jahre gab es für uns dann die Blutzuckerteststreifen, die mit Farbfeldern die ungefähre Höhe des Blutzuckers in Schritten um die 20 bis 40 mg/dL anzeigten. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis ich das erste Blutzuckermessgerät in den Händen hielt.

Nachdem ich den Beruf der Medizinischen Fachangestellten ergriffen hatte, wechselte ich 1979 in ein Dialysezentrum. Hier lernte ich schnell, zu welchen Spätfolgen der unzureichende Umgang mit dem Diabetes führen kann. Die Hälfte unserer Patienten hatte Diabetes, der zum Nierenversagen geführt hatte. Bei mir trat 1982 dann eine starke Glaskörperblutung am linken Auge auf und es drohte eine Erblindung. Beide Augen wiesen eine diabetische Retinopathie auf. Eine einmalige Krykoagulation und danach mehrere, über viele Jahre verteilte, Laserbehandlungen waren notwendig. Dadurch veränderte sich meine Einstellung zum Diabetes, und ich begann, mich kontinuierlich und intensiv unter Begleitung der Dialyseärzte über Typ-1-Diabetes und die Behandlungsmöglichkeiten zu informieren.  

Ich bekam auch das erste Blutzuckermessgerät zum Testen. Ab 1988 wurde meine Insulingabe auf ICT umgestellt, womit ich recht gut zurechtkam. Im selben Maße, wie sich mein Glukosestoffwechsel stabilisierte, kam es auch zur Stabilisierung der diabetischen Retinopathie. 

Außerdem konnte ich endlich meine Diabetestherapie selbstständig individuell anpassen. Mit der Zeit musste ich mich nur noch bei wenigen Fragen an meine Arztkollegen wenden. Eine große Hilfe war auch mein Ehemann, mit dem ich seit 1984 verheiratet bin und der seither meine „Diabetes-Laufbahn“ begleitet. Er hat mir auch sehr geholfen, als ich in den 1990er Jahren dreimal wegen schwerer Hypoglykämien einen Arzt benötigte – dazu war es gekommen, weil ich mich bei unserer Hausrenovierung körperlich sehr angestrengt hatte. 

Die Jahre vergingen. Die Blutzuckermesstechnik verbesserte sich, es kamen neue Insuline auf den Markt. Mein HbA1c-Wert lag in der Regel zwischen 6,5 und 7 Prozent. Allerdings gab es immer mal wieder Blutzuckerschwankungen mit leichten Hypos. Ab 2015 hatte ich allerdings mit sehr starken Schwankungen zu kämpfen, da ich viel beruflichen und auch familiären Stress hatte. Dies wirkte sich auf mein gesamtes Diabetes-Leben aus. Im November 2016 wurde ich arbeitsunfähig, seit Mai 2017 bin ich berentet. Mit meinem Ausscheiden aus dem Berufsleben hatte ich nicht mehr meine gewohnten betreuenden Ärzte aus dem Dialysezentrum. Stattdessen wandte ich mich an eine diabetologische Fachpraxis. Hier bekam ich ein FGM-Gerät verordnet und auch eine Insulinpumpe.

Seither erreiche ich zu 85 Prozent meinen Glukosezielbereich (70-170 mgdl), mein HbA1c-Wert liegt bei 6,3 Prozent. Ich habe recht selten Hypos oder längerwährende Hyperglykämien. Was will man mehr? Ich habe im Umgang mit meinem Diabetes viel erlebt und gelernt. Von der Glasspritze, die man immer auskochen musste bis zur kontinuierlichen Insulingabe per Pumpe. Mal sehen, was ich bzw. wir Diabetiker noch Neues in Bezug auf die Diabetestherapie erleben werden!