Nicht so viele Schoko-Eier

Im vergangenen Jahr (2019) konnte ich mit 66 meinen 33. Diabetesjahrestag feiern. Genau die Hälfte meines Lebens also ist der Diabetes mein nicht mehr abzuschüttelnder Begleiter (verheiratet bin ich mit jemand anderem).

1986 sollte ich kurz vor Ostern beim Orthopäden eine Urinprobe abgeben, weil er schauen wollte, ob meine damaligen Knieschmerzen auf eine Entzündung zurückzuführen seien. Ich rief bei ihm an, um die Ergebnisse des Labortests zu erfahren, und der Arzt meinte: „Der Test ist wohl verwechselt worden. Sie müssen nochmal Urin vorbeibringen.“ Das habe ich gemacht, doch nach dem zweiten Pipi-Test gab es keinen Zweifel mehr: Da war Zucker drin! Ich verstand nicht gleich die Bedeutung dieser Diagnose und fragte nach, wie ich mich verhalten solle. Es war Gründonnerstag, und die Sprechstundenhilfe riet mir, an Ostern „nicht so viele Schokoladeneier“ zu essen.

Nun wollte ich Genaueres wissen, denn ich naschte sehr gerne Schokolade... Bei meiner Nachfrage in der Mainzer Uniklinik bat man mich, sofort hinzukommen – zu den Endokrinologen. Dort wurde ein Bluttest gemacht und mir daraufhin empfohlen, noch am selben Tag stationär einzuziehen – über Ostern! Es war Karfreitag, Christi Leidenstag, an dem ich meine erste Insulinspritze verabreicht bekam. Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich sah vor mir eine unendliche Abfolge von Spritzen, die sich in meinen Bauch bohrten, und ich wollte alles tun, um mich aus dieser Situation wieder glimpflich rauszustehlen. Aber die Ärzte gaben mir keine Chance. Irrtum sei ausgeschlossen, betonten sie. Und ich könne erst dann entlassen werde, wenn ich fähig sei, meinen Blutzucker mit einem Fingerpicks selbst zu testen und mich eigenhändig mit Insulin zu spritzen.

Mich selbst mit Spritzen traktieren? Das war für mich unvorstellbar! Bin ich doch bis zu diesem Zeitpunkt bei Impfungen meist in Ohnmacht gefallen, einmal sogar vor der ganzen Schulklasse, als wir der Reihe nach gegen Kinderlähmung geimpft werden sollten. Ich war verzweifelt. Einerseits die Aussicht, auf alles Süße verzichten zu müssen, auf Schokolade, Kuchen, leckere Desserts! Andererseits der Zwang, mir selber Spritzen zu setzen – in den Bauch oder in die Oberschenkel, um weiterleben zu können. Was für eine Qualität hatte dieses Weiterleben noch? Zu jenem Zeitpunkt konnte ich keine mehr erkennen. Und ich brachte es nicht fertig, mir selbst die Insulinspritze in den Bauch zu rammen. Man reichte mir eine Orange mit dem Tipp, in die Orangenschale reinzustechen. Das komme doch optisch der menschlichen Haut ziemlich nahe. Kein Problem! Ich konnte zehnmal in die Orange stechen, aber nicht in meinen Bauch, subkutan. Das war doch etwas völlig anderes. Eine Selbstverletzung! Welcher körperlich und seelisch gesunde Mensch bringt so etwas fertig?

Guter Rat war also teuer. Da erinnerte ich mich an einen Psychotherapeuten, der mir erzählt hatte, dass er Hypnose beherrsche und bei manchen Patienten einsetze. Zu ihm ließ ich mich fahren von der Klinik aus. Und er sprach lange mit mir, um mir schließlich den Rat zu geben: „Probieren Sie nochmal, sich selbst zu spritzen. Wenn es gar nicht klappt, kommen Sie wieder. Dann werde ich sie zu Ihrem Wohl hypnotisieren.“ Mit dieser Versicherung beruhigt, kehrte ich in die Uniklinik zurück. Und als der Stationsarzt mit der nächsten Insulinspritze kam, schickte ich alle weg aus dem Krankenzimmer. Meine Bettnachbarin, die Schwestern, den Stationsarzt. „Raus mit Ihnen!“

Dann habe ich gekämpft – mit mir, gegen mich, gegen meinen Widerstand. Und schließlich siegte die Vernunft oder mein Wagemut oder was auch immer. Geschafft! Die erste eigene Spritze hat gesessen. Ich konnte die anderen wieder reinrufen und wenige Tage später nach Hause entlassen werden. Doch dann ging der Zirkus erst richtig los.

Bisher hatte ich in der Klinik noch keine einzige Hypoglykämie, keinen Unterzucker, erlebt. Das erste Mal war ziemlich schockierend: von jetzt auf gleich ein heftiger Schweißausbruch, der mich pitschnass und gleichzeitig völlig schlapp machte. Ich hatte Traubenzucker in der Hosentasche, um gegenzusteuern. Mit den Zuckergaben – heute korrigiere ich Unterzucker am liebsten mit Apfelsaft – bin ich im Nu wieder fit gewesen. Und bisher – toi, toi, toi – habe ich in den über 30 Jahren Diabetesdauer nur ein einziges Mal die Kontrolle über mich verloren.

Meine erste Ohnmacht war ziemlich spektakulär. Ich war mit meiner Schwägerin als Verkäuferin auf einem Flohmarkt, zwei Tage lang mit Übernachtung in einem kleinen Zelt vor Ort. Die Nacht war sehr romantisch. Wir hatten Kerzen auf unserem Stand aufgestellt, die unsere exotischen Masken und andere zu verhökernden Gegenstände flackernd beleuchteten. Und wir verkauften bis ein Uhr nachts. Am nächsten Morgen ging es weiter nach dem Frühstück. Ich hatte Lust, auch mal ein bisschen bummeln zu gehen, um das Angebot der vielen anderen Stände zu begutachten. Gesagt, getan. Ich schlenderte von Stand zu Stand und habe einiges selbst eingekauft bei den Mitanbietern.

An einem Stand mit Objekten aus Indien - von Büchern, Schmuck bis hin zu Bollywood-Filmen oder –Musik – blieb ich hängen. Habe ziemlich lange geredet mit den Standbetreibern. Wie sie mir später sagten, sind sie mich gar nicht mehr los geworden... Und ich kaufte ein bei ihnen, bis sie mir nichts mehr geben wollten, weil ihnen die Sache etwas unheimlich wurde.

Danach ging ich zu unserem Stand zurück, lief aber dran vorbei, wie meine Schwägerin später erzählte. Sie rannte mir hinterher, und als sie bei mir war, fiel ich ihr in die Arme. Bewusstlos! Mein in diesem Moment auf dem Flohmarkt angekommener Freund wusste sofort, was los war und rief den Notarzt an. Dann unternahm er Wiederbelebungsversuche mit Saft und Traubenzucker. Doch er wusste: Im Zustand der Bewusstlosigkeit sollte man niemandem etwas einflößen. Da kam ihm die glorreiche Idee, Traubenzucker bei sich im Mund zu zerkauen und mir dann im Kuss davon abzugeben. Es hat funktioniert! Als die Sanitäter zu unserem Stand vordrangen, hatte ich gerade schon wieder die Augen aufgemacht. Ich lag in einem anderen Stand – und kaufte später den dreiarmigen, rubinrot funkelnden Kerzenleuchter, auf den mein erster Blick nach dem Aufwachen gefallen war.

In 33 Jahren gab es viele Diabetes-Abenteuer in einem ohnehin abenteuerlichen Berufsleben als Reisejournalistin. Vor allem auf Pressereisen mit den ach so spontanen Kolleginnen und Kollegen. Heute kann ich diese Geschichten als Anekdoten erzählen, weil immer alles gut ausgegangen ist.

Manchmal ist das Leben als Diabetikerin auch heute noch abenteuerlich. Vor allem, wenn zur chronischen Erkrankung noch akute Krankheiten oder Operationen dazukommen. Aber wem sage ich das? Ich bin dankbar, nach so vielen Jahren mit dem 24-Stunden-Job als Diabetikerin noch immer ohne spürbare Spätfolgen zu leben.