Der Diabetes ist heute wie ein viertes Kind für mich

Ich heiße Jana. Mit meinem Mann Mike und meinen Kindern Elias (Jahrgang 2005), Leo (Jahrgang 2012) und Sara (Jahrgang 2014) wohne ich in einem kleinen Ort im Südwesten Deutschlands. Anfang August 2014 wurde bei meinem kleinen Leo Typ- Diabetes festgestellt. Zum Zeitpunkt der Manifestation war er zwei Jahre und neun Monate alt. Ich habe vom Tag der Diagnose an ein Jahr lang Tagebuch geführt über unser Leben mit dem Diabetes, von der ersten Verzweiflung, über unschöne, aber auch teils lustige Episoden, bis ein Jahr später die Krankheit selbstverständlich zu Leo und zu uns gehörte und eigentlich auch gar nicht mehr so schlimm ist. 

5. August 2014: Diabetes??? Leo, mein lieber Kleiner. Er hatte so viel Durst. So viel, dass ich heute den Kinderarzt gefragt habe, woran das liegen kann. Wie kann er so viel Durst haben, ausgerechnet Leo, der immer so wenig getrunken hat. Ich dachte, er hat vielleicht Halsweh, oder es ist eine Phase, in der er halt lieber trinkt als isst.​ Nein, das ist es alles nicht. Vor einigen Stunden erst, nach Urinprobe und einem Pikser in den Finger, sagte mir der Kinderarzt, warum Leo so viel Durst hat. Diabetes. Oder Diabetis? Ich weiß noch nicht mal, wie man es richtig schreibt. Ich weiß jetzt, dass er es immer haben wird. Es ist nicht heilbar. Spritzen und Piksen für immer. Er ist noch nicht einmal drei Jahre alt und muss so leiden. Er tut mir unendlich leid. Aber andererseits müssen wir froh sein, es ist ja nichts Tödliches wie Krebs. Der Kinderarzt hat immer wieder gesagt: „Er wird ein ganz normales Leben führen können“, doch dabei hatte er Tränen in den Augen. Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf. „Ganz normales Leben“. Ich bin bei Leo nie von etwas anderem ausgegangen.
Die Fahrt vom Arzt nach Hause, schnell schnell Mike geweckt, der nach seiner Nachtschicht schlief, das Nötigste zusammengepackt und meine Mama angerufen, wie im Nebel. Wir waren fassungslos, haben Sara und Elias bei der Oma abgeliefert und sind ins Krankenhaus. Leo war müde. Dann der Arzt im Krankenhaus, sein ernster Blick. All die Ärzte und Schwestern, die mit besorgter Miene um uns herum standen... „Ihr Kind hat Diabetes.“ Warum nur? Ich bin fest entschlossen, das Beste daraus zu machen, es könnte so viel schlimmer sein. Mein geliebter Leolo. Jetzt schläft er. Mit einer Infusion im Arm. So oft haben sie ihn heute gepiekst. Und ab jetzt gehört das zu seinem Leben dazu. Zu unserem Leben. Er war so tapfer. Wie gerne würde ich dir diese Last nehmen und mit dir tauschen, lieber Leolo.​

8. August 2014, Tag 3 nach der Diagnose: Ich schwanke zwischen Kampfbereitschaft, Trauer und der Frage nach dem Warum. Gestern früh war die Trauer am schlimmsten. Da konnte ich nur heulen. Ich musste mich so zusammenreißen vor Leo! Manchmal denke ich, was für ein Schicksalsschlag, aber meistens denke ich, es ist zu schaffen, wir hatten so viel Glück in diesem Unglück. Alles hätte viiiiel schlimmer kommen können. Mein tapferer Leolo. Es ist schön zu sehen, wie er aufblüht, weil es ihm jetzt endlich besser geht. Das gibt mir viel Kraft. Er kaspert rum und ist seit langem wieder begeisterungsfähig. Warum ist mir nicht aufgefallen, dass er in den letzten Monaten immer grantiger wurde? Ist es ja, aber ich dachte an eine ausgeprägte Trotzphase ​und dass er halt so ist. Erst jetzt merke ich, wie sehr uns seine Fröhlichkeit gefehlt hat, jetzt wo sie langsam zurückkommt. Ich habe das der Krankenschwester erzählt. Sie sagte mir dazu: „Klar war er schlecht drauf. Er war ja todkrank.“ Dieser Satz trieb mir die Tränen in die Augen. So hatte ich das bisher nicht gesehen. 
Aufgabe heute: Ab sofort unbedingt ​darauf achten, dass ich nicht mehr von Spritzen, Piksen und Stupfen rede, sondern von Messen und Geben! Er ist völlig angstfrei bei all der Stecherei und zuckt noch nicht einmal zusammen. Nachts schläft er einfach weiter beim Blutzuckermessen. Hoffentlich bleibt das so. Deshalb will ich jetzt alles nur noch positiv betiteln!

12. August 2014, 7. Tag nach der Diagnose: Heute hat mein Baby Geburtstag. Jetzt ist sie ​ein Jahr alt. Immerhin konnten wir etwas im Krankenhaus feiern. Bei ihrer Oma ist sie in besten Händen. Trotzdem vermisse ich sie und Elias und unseren normalen Alltag. Und mein Leolo, ja so langsam beginne ich etwas Überblick zu erlangen. Über all diese Faktoren, IE und KE. Er war heute schlecht gelaunt. Seine Werte sind eine Achterbahnfahrt von über 300 bis 86 und zurück in wenigen Stunden. Meine Sorge um ihn ist immens. Ich musste wieder heulen, als die Diabetes-Beraterin heute hier war, ich weiß noch nicht mal warum. Mir ist nicht klar, was ich tue und wie ich reagiere, wenn irgendwas mit Leo ist. Wenn er umkippt. Das macht mich fertig. Ich habe solche Angst.​ Gleichzeitig fehlen mir meine anderen beiden. Und dann ist da mein Mann, und ich weiß nicht ob ich wirklich auf ihn zählen kann.​ Heute war wieder ein düsterer Tag, obwohl ich eigentlich heute feiern sollte, dass meine Sara jetzt ein Jahr alt ist. 

14. August 2014, 9. Tag nach der Diagnose: Heute ist Donnerstag. Übermorgen gehen Leo und ich zu meiner Mama über Nacht. Dann Sonntagabend bis Montag nochmal ins Krankenhaus – und dann mal sehen, ob wir heim können.​ Ich glaube, die Depri-Phase ist erst einmal überwunden. Ich brenne eigentlich langsam drauf, wieder nach Hause zu kommen und einen neuen Rhythmus mit dem Diabetes zu finden. Die Sozialarbeiterin, die fast täglich Gespräche mit mir führt, gab mir den Rat, in kleinen Schritten zu gehen und immer nur den aktuellen Tag zu planen. Und sie hat mich an das Yin und Yang erinnert: In allem Schlechten ist ein Kern Gutes und andersrum.

Schwester Alexandra meinte, der Diabetes sei mein viertes Kind: Ich muss ihn annehmen, ihn pflegen und beachten wie meine anderen Kinder auch. Er gehört jetzt zur Familie. Sie hat es so erklärt, dass ja bereits die Geburt meines ersten Kindes eine Herausforderung war. Dann kam das zweite, und wieder stand ich vor einer Herausforderung. Dann das dritte Kind, und auch das habe ich geschafft zu meistern. Jetzt ist halt der Diabetes die nächste große Aufgabe, und nach einiger Zeit, wenn wir uns an ihn gewöhnen konnten und ihn als wichtigen Teil akzeptieren, wird das Leben auch wieder leichter. Ich glaube, sie hat Recht. Ich schaffe das. Leo schafft das.
Heute habe ich ihm eine kleine blaue Plüsch-Maus gekauft, die man wie einen Rucksack umschnallen kann. In ihren Bauch habe ich den Pen, das Blutzuckermessgerät und den Diabetiker-Ausweis getan. Leo ist ganz begeistert von der Maus, spricht mit ihr und ist den ganzen Tag mit ihr auf dem Rücken rumgelaufen. Ich glaube, er fand es toll, dass alle ihn wegen der Maus bewundert haben, auch wenn er nur verlegen mit seiner Zunge spielt, wenn ihn jemand anspricht, und sich nicht traut, etwas zu sagen, wenn Fremde ihm Fragen stellen. „Mausi“ ist ab heute überall, wo Leo auch ist.

5. November 2014, 3 Monate nach der Diagnose: Nach diesen drei Monaten haben wir uns tatsächlich etwas an den Diabetes gewöhnt. Wir hatten nicht viel Zeit zum durchatmen. Leo hat diverse Male eine Bronchitis hinter sich, heute ist das Ganze so ausgeartet, dass er eine Mittelohrentzündung hat und Antibiotika nehmen muss. Eigentlich war er den ganzen letzten Monat nicht gesund. Sara und ich kränkeln auch seit zwei Wochen. Vorgestern hat sie zweimal das Bett, sich und mich vollgekotzt. Ich war nur froh, dass es nicht Leo war, denn wenn er bricht, müssen wir ins Krankenhaus. 

Neulich hat der Diabetes sogar für einen Lacher gesorgt:

Leo: "Mama, bin ich niedlich?"
Ich: " Ja, sehr soga­r!"
Leo: "dann kann ich ja was essen!"
Ich: "wie kommst du denn darauf?"
Leo: "ja, du hast do­ch gesagt mein Blut-­Tucker ist niedlich!­!!"

14. Januar 2015, 5 Monate nach Diagno­se: Leo redet jetzt so schön, er hat viel Fa­ntasie, hört am lieb­sten stundenlang Bil­derbuch-Geschichten und spielt für sein Leben gern Fußball. Er ist ein ganz nor­maler Dreijähriger geworden, puzzelt ger­ne und ist stolz, wenn er was alleine kan­n. Heute Nachmittag ist er das erste Mal zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Ich muss wie sein Sch­atten mit. Noch ist das ja okay und gut, vielleicht knüpfe ich so auch neue Kontak­te, aber wenn er ält­er wird? Aber: „Let’s go over the bridge when we are there!“, gell?

4. Mai 2015, 9 Monate nach der Di­agnose: Es gibt nicht viel Neues. Der Alltag läu­ft, es geht uns gut. Die Anträge sowohl für die Insulinpumpe als auch für das De­xcom-System wurden vor Wochen bereits von der Krankenkasse genehmigt. Nun ist nur ständig der Arzt im Urlaub oder die Di­abetesberaterin krank oder umgekehrt. Ei­gentlich wollten wir schon Ostern im Kra­nkenhaus sein um all­es zu bekommen, aber es zieht sich.​ Ich freue mich so auf die Pumpe, den „Po­d“ und auf den Sensor – nur noch dreimal täglich Blutzucker messen statt wie bish­er acht- bis zehnmal, an schlimm­en Tagen bis zu zwölfmal. Und unterwegs sp­ontan ein Eis essen ohne ihm unter den mitle­idigen Blicken aller Leute im überfüllten Eiscafé den Pen in den Bauch stech­en zu müssen. Ich fr­eue mich wirklich se­hr. Auch hoffe ich, dass die Erzieherinnen im Kindergarten die Bedienung des Pod lernen und Gruppenfrü­hstücke oder Müsli-T­age nicht mehr in We­rten von über 400 en­den.​
Neulich fand die kle­ine Sara einen Kuli. Ich wollte schon los und ihn ihr wegne­hmen, denn ich rechnete damit, dass sie im nä­chsten Moment auf den Boden kritzeln wür­de. Da zog sie sich den Pulli hoch, dr­ückte den Stift in ih­ren Bauch und strahlte mich stolz an. All­es, was Leo macht, ist halt toll und Sara will das auch…

29. Juli 2015, fast ein Jahr nach der Diagnose: Heute war eine Dame der Firma Ypsomed bei uns. Sie hat mir den PDM (Eine Art Fer­nbedienung) überreic­ht und erklärt. Dann durfte ich bei mir am Bauch einen Omnipod anlege­n. Es ist ein kleine­s, relativ schweres „halbes Ei“. Vor dem Auslösen der Nadel hatte ich erst Angst, aber es hat nur ku­rz gezwickt, jetzt spüre ich nichts Unan­genehmes mehr, merke aber, dass da etwas ist. Bis Samstag bleibt der Pod jetzt an mein­em Bauch, ich berech­ne und „bole“, so als hätte Leo den Pod schon. Ist noch etwas kompliziert, bei all den Funktionen den Überblick zu bekomme­n, aber ich denke, mit der Zeit wird das schon. Natürlich ist in meinem Pod nur Kochsalz, kein Insuli­n. Montag geht's ins Krankenhaus, ich bin schon sehr gespann­t, besonders auf den CGM Sensor. Leo möc­hte ja eigentlich ke­inen Pod (was der Ba­uer nicht kennt…), aber als er meinen Pod gesehen hat, fand er ihn doch gut. Auf die dazugehörige Tasche habe ich gleich eine Maus aufgebüg­elt, die hatten wir schon vor längerer Zeit mal gesehen und für diesen Zweck gek­auft. Leo freut sich auf’s Krankenhaus, er möch­te dort wieder Kicker spielen und auf den Spielplatz gehen. Ich gl­aube, er freut sich auch darauf, mich dort für sich allein zu haben ;-)​

3. August 2015: So, jetzt sind wir im Krankenhaus. Leo hat jetzt den Pod. Das Setzen tat ihm weh, der laute „Kna­ck“ hat ihn erschrec­kt, und er hat kurz geweint. Jetzt bewegt er sich sehr vorsic­htig, möchte den Pod nicht berühren. Dass er keine Spritzen mehr braucht, wollte er mir gar nicht glaub­en. Er hat zweimal gefragt, ob er jetzt wirklich schon essen könne… Wir haben den Pod au­ch gleich richtig (a­us)genutzt: Nach dem ersten Brot wollte er noch das zweite, ich drückte einfach ein paar Tasten und – tadaa – er konnte ohne Unterbrechung weit­er essen! Ich bin ganz hin und weg von dem Ding!

5. August 2015: Lieber Diabetes, wie schade, dass du zu Leo gekommen bist, wir hätten dich ni­cht wirklich vermiss­t, wie schade das wir zusammen sind, wir gratulieren dir Geb­urtstagskind... ;-)

Aber was zählt, ist das Hier und Jetzt, und das ist sehr schö­n. Der Pod erfüllt alle meine Erwartungen, er ist einfach nur super. Leo geht es blendend, seine Werte sind top. Und als Sahnehäubchen obendr­auf kamen wir gestern in ein Zimmer mit der kleinen Sonja (5) und ihrer Mama. So­nja hat wie Leo Diab­etes und eine neue Pumpe bekommen. Die beiden verstehen sich so schön. Heute war­en sie den ganzen Tag Piraten, wir haben ihnen Augenklappen und Flaggen gebastelt, und die Krankenhausbetten wurden zu zw­ei Piratenschiffen. Sonja baut sich gerne mit wichtiger Miene vor Leo auf und me­int: „Leo, du bist wie ich! Dir haben sie Blut abgenommen und mir haben sie Blut abgenommen. Du hast eine Pumpe, weil du Insulin brauchst und ich auch. Du bist mein bester Freund!“ Dann strahlt er sie an, und sie werden zu glücklichen kleinen Piraten, die spannen­de Abenteuer erleben. Es ist zum Dahinschmelzen… Mit der Mutter der Kleinen kann ich mich auch austauschen, uns beschäftigen dieselben Fragen.​

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Heute, nachdem alle Termine vorbei waren, war ich mit Leo in der Stadt. Wir haben ein Eis gegessen, und er hat im Spielzeuggeschäft eine kleine Prinzessin aus Pla­stik für Saras 2. Gebur­tstag ausgesucht. Es sind über 30 Grad, und ich fühle mich fast ein bisschen wie im Urlaub… Nur ein Kind und kaum Verpfli­chtungen, Haushalt, Kochen, alles nicht meine Sorge hier. Sc­hön ist das. Ja, heute war ein se­hr schöner Tag – und die Dankbarkeit für die Möglichkeiten der Behandlung des Dia­betes ist immens. Jetzt, nach einem ganzen Jahr hat der Diabetes seinen Schrecken verloren. Er gehört jetzt einfach dazu.